Spuren des Lebens

spurenHans-Wolfgang Renz berichtet in seiner Autobiographie “Spuren des Lebens” über seine Kindheit unterm Hakenkreuz, über das schlimme Kriegsende und die schwere Zeit danach. Der Autor beschreibt sein Leben und schweigt sich auch über Eskapaden – vor und während seiner Ehe – nicht aus. Die wichtigsten Phasen seines Lebens jedoch – seine Kletterzeit, seine Wildwasserfahrten und seine Reisen mit Segelyachten und auf Containerschiffen – dominieren das Werk. Im reifen Alter entschloss er sich, alles in einem Buch zusammenzufassen und zu veröffentlichen. Der sich im Laufe der Jahre veränderte Schreibstil wurde belassen, kein Ghostwriter hat in dieses Buch seinen eigenen Stil eingebracht. Hans-Wolfgang Renz, geb. 10.04.1937, hatte schon als junger Mann seine Erlebnisse aufgeschrieben, teilweise auch publiziert. Das Internet gab ihm nun die Möglichkeit, seine Erlebnisse darzustellen.

702 Seiten, erhältlich als aktualisierte Sonderausgabe für 28 Euro (klicken Sie auf “Zum Warenkorb hinzufügen”)

Leseprobe Kapitel “Civetta”

Nun war es soweit, meine größte alpine Herausforderung stand vor der Tür. Von diesem Urlaub hatte ich wieder einen Bericht geschrieben, ich gebe ihn hier im Original wieder:
Mit dem Motorroller fuhr ich ins Toggenburgische, wo Seth zu hause war. Ich übernachtete bei ihm im elterlichen Haus, bevor wir mit seiner 500er BMW abfuhren, segnete ihn seine Mutter.
Das schöne Wetter reichte gerade bis zum Brenner, dann kam der Regen. Seth hatte wenigstens seinen ledernen Militärmantel und Stiefel, ich musste mich mit einem Mantel aus Zellstoff begnügen, ansonsten waren es meine Kletterklamotten.
Wenige Kilometer nach der Passhöhe: Plattfuß hinten. Seth fing die Maschine ab, das Hinterrad wurde ausgebaut und der Fußmarsch zum nächsten Dorf begann. Stunden später waren wir mit geflicktem Reifen zurück, die Befürchtung Seth´s, es könnte etwas gestohlen worden sein, war unbegründet, es war noch alles vorhanden.
Weiter ging es Richtung Bozen. Am Karerpass stauten sich die Fahrzeuge, eine Mure war in die Eggenschlucht gerutscht und hatte den Fluss auf die Straße geleitet, diese war überflutet. Verschiedene Autos und Motorräder versuchten es über eine Wiese und blieben stecken. Seth inspizierte die überschwemmte Straße zu Fuß, kam zurück und sagte nur:
„Uffhocke“ und nachdem wir beide sowieso klatschnass waren, spielte es auch keine Rolle mehr, dass es gewaltig spritzte, als Seth durch das entgegen strömende Wasser bolzte. Wir hatten Glück, die Maschine blieb nicht stehen und wir konnten weiterfahren.
Pordoi, Falzarego, Caprile, Alleghe, Listolade. Hier war die Motorradfahrt zu Ende, Seth kannte einen Bauern, bei dem wir die Maschine abstellen konnten und bei dem wir im Heustadel übernachten durften. Auch die Motorrad-klamotten konnten wir hier lassen.
Am Morgen war das Wetter schön, wir packten unsere Rucksäcke und machten uns an die Wanderung Tal aufwärts, Richtung Vazoller Hütte, im Zentrum des Blickfeldes immer die Südwand des Torre Trieste. Vier Stunden quälten wir uns dem Tagesziel entgegen, dann, nach dem letzten Durchqueren des Baches folgte ein letzter Steilaufstieg und vor uns lag ein Trümmerhaufen einer verbrannten Hütte, an dem ein Schild hing:
„Vazoller fermate“.
Nun war guter Rat teuer.
Wir entschlossen uns, zur nahe gelegenen Alm zu gehen und nach einer Übernachtungsmöglichkeit zu fragen. Die Hirten waren sehr freundlich, wir konnten bleiben und aßen mit ihnen zu Abend Polenta aus einem großen eisernen Topf, der an Eisenketten über offenem Feuer hing.
Am Morgen planten wir als Eingehtour die Nordwestkante des Torre Venezia. Obwohl es regnete, war der Dolomit gut kletterbar, wir seilten uns erst an, als wir merkten, dass wir uns bereits im fünften Schwierigkeitsgrad befanden.
Auf dem Gipfel saßen wir unterm Biwaksack und fühlten uns trotz Nässe „sauguet“, wie Seth bemerkte. Der Abstieg war nicht besonders schwierig und bald waren wir wieder auf der Alm. Nachdem es immer noch regnete, beschlossen wir, am Morgen die „Bancon“ anzugehen, die seinerzeit einzige Alpentour mit Schwierigkeit 6 A4 mit dachartigen Überhängen und extrem brüchig.
„Da kann es seichen, soviel es will, da wird niemand nass“, grinste Seth mit seinen feurigen schwarzen Augen und packte Steinbohrer und Expansionshaken ein, für die damals schwierigste technische Klettertour der Alpen war viel ausgesuchtes Material notwendig.
Morgens um 3.00 Uhr war es sternenklar, Seth schmiss das Bohrzeugs aus dem Rucksack und packte die „Schliesslerhaken“ für die Carlesso Sandri ein und vergaß auch seine Kletterfinken nicht. Ich selbst brauchte keine zweiten Schuhe, wir hatten uns im Donautal daran gewöhnt, alles mit den schweren „Lowas“ zu gehen.
Langsam stiegen wir den Vorbau hoch, Seth wechselte die Schuhe und ließ seine schweren Treter unter einem Felsvorsprung zurück. Bald waren wir am Einstieg, die erste Sechserstelle.
Wir seilten uns an, zwei Vierzigmeter Kernmantelseile mit 11 mm Durchmesser, dreißig Karabiner, dreißig Haken, drei Hämmer, sechs normale Trittschlingen aus Grylon mit Alu-Leichtsprossen und Fiffis, den Biwaksack mit Verpflegung und Verbandmaterial, wir waren gut ausgerüstet für eine der schwierigsten Klettertouren in den Alpen.
Die Einstigseillänge bereitete keine Schwierigkeiten, doch dann folgte die Stelle, wo Seth im Vorjahr umgedreht war, die berühmte, völlig überhängende Schlüsselstelle im unteren Teil der Wand.
Seth arbeitete sich hoch, es war eine rein technische Arbeit mit weiten Hakenabständen.
Das Fehlen einer langen Reepschnur machte sich nun schmerzlich bemerkbar, ich hatte den schweren Rucksack im Kreuz und musste mich richtig hoch schinden; wenn Seth mir nicht ernst zugeredet hätte, ich hätte die letzte Trittschlinge hängen lassen. Der Fiffi hatte sich verklemmt und wollte einfach nicht aus dem Haken raus, es kostete ungeheuer viel Kraft, bis ich das Scheißding wieder hatte.
Die nächste Seillänge führte über einen Sporn direkt in die ausgesetzte Wand hinauf, eiskalter Nebel quoll heraus, ich hatte tierische Angst, da hinaus zu queren und bat Seth, vorzugehen.
Ein Blick voller Verachtung streifte mich und wortlos ging der Gefährte an mir vorbei, ich schämte mich, aber ich hatte wirklich die Hosen gestrichen voll.
Als ich nachgekommen war und merkte, dass ich nicht vor der kletterischen Schwierigkeit, sondern vor meinem eigenen Ich kapituliert hatte, bekam ich eine richtige Wut, nicht zuletzt auch deshalb, weil Seth zu jammern begann, es sei dieselbe Scheiße, wie im letzte Jahr, jetzt müsse er wohl wieder alles selbst führen und was für eine Flasche ich eigentlich sei. Ich nahm ihm die Karabiner ab und ging wortlos an ihm vorbei, ich hätte schreien können.
Diese Seillänge forderte von mir das Letzte, es war tatsächlich ein Gang an der Sturzgrenze und alles ohne einen einzigen Haken, denn zum Schlagen war keine Hand frei.
Als ich ein schmales Band in Brusthöhe erreicht hatte, waren die Seile aus. Ich schrie und schrie und zerrte, versuchte vergebens einen Standhaken zu schlagen, und steckte auf dem Band zwei Haken in den Dreck und setzte mich drauf. Dann ließ ich Seth nachkommen, immer in dem Bewusstsein, dass ich bei einem Sturz mit aus der Wand fliegen würde. Als er bei mir war und das Sicherungsfiasko sah, sagte auch er kein Wort und ging schweigend weiter.
Später sagte er mir, das sei bisher seine schwierigste Seillänge gewesen, die er je geklettert sei.
Wir stiegen weiter und wussten beide, dass wir uns verstiegen hatten, auch dass wir auf Hilfe nicht hoffen konnten, denn niemand wusste, wo wir waren, und auf der abgebrannten Vazoller Hütte war ja auch keine Menschenseele. Nach einem langen Quergang fanden wir plötzlich einen Haken, es war wie ein Wunder.
Zwei leere Ölsardinendosen, gefüllt, mit Regenwasser, ein Gottesgeschenk für unsere durstigen Kehlen, wir prosteten uns zu und hatten das gute Gefühl:
Wir werden es schaffen.
Ein Dachüberhang mit Haken konnte uns nicht groß schrecken und nach wenigen Seillängen hatten wir das erste Band erreicht. Von der Busazza herüber kamen rabenschwarze Wolken, dann begann es zu wie aus Kübeln zu regnen, richtige Wasserfälle kamen durch die Schlucht zwischen Busazza und Torre Trieste und insgeheim dachte ich an Leo Maduschka, der in der Civetta Nordwestwand buchstäblich ersoffen war. Wir saßen unterm Biwaksack und froren und plötzlich war sie wieder da, die kalte Angst. Ich traute mich nicht, irgendetwas zu sagen, wir saßen schweigend nebeneinander, da sagte der Ältere plötzlich:

„Wolfgang, lass uns absteigen, bei diesen Verhältnissen haben wir keine Chance, wir haben bisher Glück gehabt und weiter oben soll es ja noch schwieriger werden“.
Ich war maßlos erleichtert, die Lähmung wich aus meinen Gliedern und als Seth den Rucksack öffnete und einen Riegel Traubenzucker spendierte, war ich glücklich, ich hätte ihn umarmen können, aus war der Versuch einer neunten Begehung.
Wir begannen Richtung Busazza zu queren, das Band wurde schmäler und schmäler und plötzlich war es zu Ende. Der Fels hatte durch den Regen eine schwarzgraue Färbung angenommen und sah ausgesprochen bedrohlich aus.
Beide versuchten wir einen Abseilhaken zu schlagen, der kompakte und zugleich brüchige, abwärts geschichtete Dolomit wehrte sich vehement.
Ich konnte einen kurzen Messer-Querhaken etwa zwei Zentimeter in einen Längsriss hämmern, dann war Schluss. Ich verdrehte die Öse mit einem zweiten Haken und fädelte ein Seil durch.
„Ich gehe zuerst, ich habe schließlich den Haken geschlagen und bin auch leichter, als du“ sagte ich zu Seth, legte alles ab, was Gewicht hatte, schlang das Seil zum Dülfersitz um mich herum und begann abzuklettern. Zuvor hatte ich ihm die Signalpistole gegeben, sollte der Haken ausbrechen und Seth mich nicht halten können, wäre sie für mich ohnehin nutzlos gewesen.
Nach etwa zwanzig Metern machte ich auf einem kleinen Felsabsatz halt und Seth ließ den Rucksack zu mir herunter, dann folgte er, ebenfalls kletternd, wo es möglich war. Als Seth bei mir war, versuchten wir das Seil abzuziehen, es klemmte. Wir hängten uns beide dran, da kam es mit einem Ruck, samt Haken heruntergeflogen. Wir schauten uns beide nur an, mit dem Wissen, dass zumindest einer von uns kurz zuvor knapp einer Katastrophe entronnen war. Weiter seilten wir uns ab, durch die berüchtigte Schlucht zwischen Torre Trieste und Busazza, die der berühmte Franzose Jean Couzy treffend die „Angstschlucht“ getauft hatte.
Wir gingen nun auf hundertprozent Nummer sicher, schlugen zwei Haken, wo auch einer genügt hätte und erreichten am späten Abend wieder sicheren Boden. Seth konnte trockene Bergschuhe anziehen, ich latschte mit nassen Stiefeln hinter ihm her zur Almhütte. Total erschöpft fielen wir ins Heu und schliefen bis in den späten Morgen. Wir packten unsere Sachen zusammen, ließen den freundlichen Hirten zum Dank eine Dose Nescafe zurück und gingen gemütlich talabwärts nach Listolade.

Schon Tags zuvor, während des Abseilens, hatten wir vereinbart, wenn wir hier lebend herauskommen, ist dieser Kletterurlaub gelaufen, dann fahren wir ans Mittelmeer und erholen uns. Wir packten alles auf die Maschine und fuhren gen Süden, wechselten Geld in Mestre und fuhren weiter nach Grado, wo wir unsere körperlichen und seelischen Wunden heilten.
Drei Tage später ging es zurück in die Schweiz, ich packte meine Siebensachen auf den Motorroller und fuhr Richtung Deutschland. Ich dachte wohl, man könne eine Lambretta fahren, wie eine BMW, nach der ersten richtigen Kurve setzte der Roller auf und ich flog durch die Gegend. Außer einigen schmerzhaften Hautabschürfungen war nichts passiert und bald war ich wieder zu Hause.
Was uns Hochleistungskletterern damals allen im Kopf herumspuckte, war die Eiger Nordwand. Günther Nothdurft hatte sie im Alleingang versucht und war bis zum dritten Eisfeld gekommen, dann hatte er umgedreht. Damit niemand seine Absicht erriet, hatte er seine Kletterutensilien in einem Koffer versteckt.
Zurück im Donautal meinte er, die Wand sei ein brüchiger Scheiß, da wolle er nicht mehr hingehen.
Weiter war ich im Donautal aktiv, doch wenn es besonders heiß war fuhr ich auch mal übers Wochenende an den Bodensee, wo mein Bruder beim Faltbootsegeln war. Er fragte mich, ob ich nicht mit ihm einmal Faltboot auf einem Fluss fahren wolle und ich sagte ihm zu. Lange suchte ich im Deutschen Fluss- und Zelt Wanderbuch, bis ich unser Ziel fand. Als mein Bruder von der Schule kam, empfing ich schon an der Haustür:
„Ich habe einen ganz tollen Bach entdeckt, die Bregenzer Ache.“
„Du spinnst wohl, du weißt ja noch nicht einmal, wie man ein Paddel hält und willst Wildwasser fahren?“ knurrte er. „Die Donau ist das Einzige, was wir machen können.“
„Aber ab der Weissachmündung ist die Bregenzer Ache doch bloß Schwierigkeitsgrad II“, sagte ich und dachte daran, dass die Donau kaum Strömung hat und man da ganz schön schwitzen muss. Doch mein Bruder Fritz-Joachim lehnte ab.
„Aber du bist doch schon den Rhein von Breisach nach Koblenz gefahren, da hat es bestimmt höhere Wellen, als auf Wildwasser II, und nicht einmal gekentert bist du.“
„Also gut, aber wenn wir umschmeißen, bist du schuld.“ Nun wohl, die Schuld wollte ich gerne auf mich laden. Außerdem wirft man doch bei einem Zweier nicht um.
Hatte ich nicht schon oft beim Klettern Anfänger in eine Dreierroute mitgenommen?
Wir besorgten uns noch Reservepaddel und Bootstaschen, der Kahn wurde im Käfer VW verstaut und ab ging die Fahrt Richtung Bregenzer Wald.
Mein Bruder neben mir studierte die Autokarte:
„Ich möchte nur wissen, wo diese blöde Weissach in die Bregenzer Ache mündet. Ich sehe hier nur einen Fluss, der mündet etwas oberhalb Bezau in die Ache, das kommt mir etwas komisch vor.“
„Das ist bestimmt die Weissach“, beruhigte ich den drei Jahre jüngeren Bruder.
„Außerdem weiß ich vom Skifahren her, dass die Bahn direkt an der Ache entlang fährt, da können wir sie ja anschauen.“
Zur Sicherheit erkundigten wir uns noch beim Ruderclub in Bregenz, doch die kannten außer dem Bodensee überhaupt kein anders Gewässer. Als wir in die Bregenzerwald – Bahn einstiegen, schauten uns die Bahnbeamten groß an.
„Wos, die Oach wollts foahrn?“
Mein überlegenes Lächeln war nur noch Fassade. Langsam kriegte ich doch die Muffe, doch da sprang mein Bruder ein:
„Da sind schon andere herunter gefahren, das packen wir auch.“
„Do is no koaner abigfoahrn“, sagt der Bahnhofsvorsteher.
„Dann fahren wir eben als erste abi“, grinste ihn Fritz-Joachim an. Jetzt hatte es meinen Bruder auch gepackt.
Beleidigt drehte sich der Eisenbahner um.
Langsam keuchte die Schmalspurbahn talaufwärts. Vom Abteilfenster aus konnten wir schön den Fluss anschauen. Es war noch wirklich nicht viel los und wir wurden schon wieder übermütig. So spürten wir kaum, dass der Fluss immer schwieriger wurde. In Lingenau schrie mich mein Bruder an: „Mensch, wir müssen raus, da oben kommen wir niemals durch.“
„Dann umtragen wir ´s eben, “ meinte ich.
„da unten, genau dasselbe, wir müssen raus.“ Doch, bis wir uns entschlossen hatten, auszusteigen, fuhr der Zug schon wieder weiter. Beide waren wir uns einig:
Obwohl wir bis Bezau gelöst hatten, bei der nächsten Station würden wir aussteigen. Böse sah der Fluss aus und das Herz hing uns ganz unten in der Hose.
In Egg verließen wir den Zug und karrten das Boot die Dorfstrasse zum Fluss hinunter. Wir waren froh, dass unserem Gepäck niemand ansah, dass dies ein abgeschlagenes Faltboot beinhaltete.
Unbemerkt kamen wir zum Fluss und bauten Fritz-Joachims „Rapunzel“ auf. Es war dies ein recht alter, vom Segeln ziemlich verzogener HAMMER Regatta Zweier.
Mein Bruder hatte in einem Lehrbuch für Faltbootsport gelesen, dass man im Wildwasser hoch sitzen muss und schon packte er auf die Sitzbretter alles, was so herumlag.
„Spinnst du“, schrie ich. „der Schwerpunkt liegt sowieso recht hoch.“
„Was kümmert mich dein Schwerpunkt, hättest du nicht so viel gefressen, hättest du keinen so hohen Schwerpunkt. Im Übrigen. Man muss hoch sitzen, damit man in den Brechern die Blöcke besser sieht.“ Das leuchtete auch mir ein. Trotzdem stieg ich reichlich skeptisch vor meinem Bruder auf den Hochsitz. Zuvor hatte er mir noch gezeigt, wie man das Paddel hält und dreht und mir erklärt:

„Du bist nun der Ausguck, du musst den Weg erkunden. An dir hängt nun alles. Wenn wir auf einen Block fahren, bist du schuld.“
Kaum hatten wir die Spritzdecke geschlossen, ging die Fahrt schon los. Das Boot zog rechts gegen eine Wand. Ich schrie „links“ und schaufelte los, so schnell ich konnte. Knapp kamen wir an dem Felsen vorbei. Bis zur Straßenbrücke fiel das Wasser kaskadenförmig ab. Wie das Faltboot über die Steine rutschte und das Ufer vorbeiflog, bekam ich eine Höllenangst und wünschte mich in die steilsten Wände. Die dreihundert Meter lange Blockstrecke war zwar fahrbar, aber nicht für einen Faltboot-Zweier und schon lange nicht für Anfänger. Krach machte es und wir saßen zwischen zwei Blöcken fest. Fluchend stiegen wir aus und wateten ans Ufer, um uns den Weiterweg anzusehen. Natürlich war ich Schuld, dass wir rechts festsaßen, obwohl es links herunter gegangen wäre.
„Hättest du besser aufgepasst, du bist der Lotse, du hast Schuld“ brüllte mein Bruder. Ich schnitt ihm das Wort ab: „Du hast gesagt, wenn wir auf einen Block fahren, bin ich schuld, wir sind aber zwischen zwei gefahren!“
Die Antwort lässt sich nicht zu Papier bringen. Doch es half nichts, wir mussten umtragen. Kurz nach der Blockstrecke kam eine Stufe. Wir hielten die Paddel hoch über den Kopf und ließen uns durchtreiben, bei der nächsten Schnelle machten wir es ebenso.
„Langsam gefällt mir die Sache“, rief ich nach hinten, „aber wir sollten das Boot erst ausleeren, ehe wir weiter fahren.“
„Nach dem nächsten Schwall machen wir es leer“, kam von hinten die Antwort. Der nächste Schwall war eine überronnene Platte, hinter der eine kleine Schrägwalze stand.
Da wir ohnehin schräg anfuhren, kippte das Boot einfach um und wir lagen im Bach. Ich drehte mich um und sah, wie mein Bruder aus dem Boot heraussprang. Ich ließ mich ebenfalls herausfallen, die Brille rutschte von der Nase, unter Wasser setzte ich sie wieder zurück und tauchte auf.
Fritz Joachim hatte schon das Boot unterm Arm und schwamm ans Ufer. Nichts war abgesoffen, denn alles war gut angebunden. Auch das steht so im Paddler-Lehrbuch. Da es schon recht spät geworden war, beschlossen wir, erst am anderen Tag weiter zu fahren. Die Kleidersäcke unterm Arm wanderten wir auf den Bahnschienen zum Bahnhof Lingenau.
Groß war die Enttäuschung, als wir erfuhren, dass man hier nirgendwo übernachten kann. Nur der Bahnhof lag im Tal, die Ortschaft Lingenau dagegen, etwa vier Kilometer entfernt, auf der Höhe. Mit dem Bus fuhren wir hin und bekamen ein billiges Zimmer. Abends tranken wir gegen eventuelle Erkältungen einige Liter Glühwein und fielen zufrieden grunzend und leicht besäuselt in unsere Betten.
Morgens erwachte ich mit einem seltsamen Druck im Schädel. Ich musste mir erst überlegen, wo ich überhaupt war. Neben mir schnarchte mein Bruder noch wie eine Brettersäge. Langsam dämmerte die Erinnerung: Das brodelnde Wasser, ein umgeworfenes Boot, nasse Kleider und heißer, süßer Rotwein.
„Aha“, konstatierte ich innerlich, „daher ist der Druck in der Birne.“ Kurz entschlossen zog ich Fritz – Joachim die Bettdecke weg. Er schrie etwas von „wahnsinnig“ und „mitten in der Nacht aufwecken“, griff sich an den Kopf und fragte nach der Uhrzeit.
„Neun Uhr ist es noch, und wir Deppen pennen noch immer, draußen scheint die Sonne, raus jetzt“, sagte ich und grinste vor mich hin. Mit einem Sprung hüpfte er aus dem Bett und sprang ans Fenster.
„Du bist und bleibst ein alter Lügner, da schau auf die Kirchturmuhr! Halb acht ist´s und saukalt.“
Aber da wir beide schon auf waren, gab es kein Zurück mehr in die Federn. Die erste Überwindung kostete es uns, in die nassen, kalten Kleider zu kriechen. Wir bezahlten unsere Übernachtung und wanderten die Dorfstraße entlang Richtung Bushaltestelle. Manch seltsamer Blick streifte uns von den sonntäglich gekleideten Kirchgängern, was uns aber keineswegs störte.
Die erste große Enttäuschung erwartete uns an der Haltestelle des Postomnibusses. Der erste Bus war schon lange weg und der nächste fuhr erst um halb zwölf Uhr. Das bedeutete etwa eine Stunde Fußmarsch.
„Das tut unseren vollgesoffenen Schädeln ganz gut“, meinte Fritz-Joachim.
Aha, dachte ich, Du also auch. Da hatte nicht nur ich zu viel getrunken, sondern auch der drei Jahre jüngere Bruder.
Als ich den Fluss, tief unter uns das erste Mal sehen konnte, bekam ich es wieder mit der Angst zu tun. Vor dem Bahnhof Lingenau lagen viele Blöcke im Fluss. Skeptisch fragte ich meinen Bruder, ob er das tatsächlich fahren wolle.
„Du bist verrückt, das ist für einen Zweier ganz unmöglich, das wird natürlich umtragen“, entgegnet er, worüber ich heilfroh war, denn nochmals baden zu gehen, hatte ich absolut keine Lust.
Wieder tippelten wir die Schienen der Waldbahn entlang. Bald hatten wir das Boot erreicht. Die Kleidersäcke wurden verstaut und angebunden, dann paddelten wir wieder flussabwärts. Zwei kleine Stufen und einige Schnellen wurden ohne viel Grundberührung durchfahren.
„Langsam gefällt mir die Sache wieder“, rief ich nach hinten.
„Das hast du gestern schon einmal behauptet und anschließend lagen wir im Bach“, rief mir der „Kapitän“ vom Hintersitz zu.
Vor uns lag eine kaum überronnene Kiesbank, hinter der von rechts her die Supersach in die Bregenzer Ache einmündet.
„Wir müssen landen“, schrie Fritz-Joachim nach vorne, und schon begann er in der Mitte des Flusses das Boot gegen den Strom zu drehen. Ich sah noch einen Block in rasendem Tempo auf uns zukommen, da hingen wir schon in der Mitte des Blockes mit dem Boot fest.
Fritz Joachim brüllte noch:
„Aussteigen“, da krachte es schon überall. Ich ließ mich aus dem sich zur Seite neigenden Boot in das etwa knietiefe Wasser fallen, da klappte der Faltbootzweier endgültig zusammen.
„Hol du das Auto, ich bringe den Kahn selber heraus, hau ab, wir treffen uns am Bahnhof, “ rief mir mein Bruder zu, der sich um das zerbrochene Boot kümmerte. Wie ich so Richtung Bahnhof Lingenau marschierte, dachte ich bei mir: ´Du solltest es wohl für dich behalten, wenn es anfängt, dir langsam zu gefallen.´ Wie ich dann wenig später auf der Plattform des letzten Wagens der Bregenzer-Waldbahn stand und versonnen auf die Bächlein schaute, die aus meinen Kleidern tropften, ging die Abteiltüre auf und derselbe Schaffner, der uns von der Befahrung gewarnt und abgeraten hatte trat auf mich zu. Natürlich hatte er meinen Bruder im Fluss herum fuhrwerken sehen und das zerbrochene Boot, das er nun zu bergen versuchte.
„Gell, I hoabs euch jo glei gsoagt, dass mer do nit foahren ka, aber ihr Deppen hoabt mir nix glaubt. Jetz isch euer schöans Boot hin, do seids schoa selber schuld, “ sagte der Mann und hatte zweifellos recht.
„Ja, ja, das stimmt schon“, gab ich kleinlaut zu und war froh, als er nach der Fahrkarten Kontrolle wieder verschwand.
Als ich dann zwei Stationen weiter, kurz nach der Einmündung eines Flusses den Namen „Weissachbrücke“ las, ging mit ein Licht auf. Hatten wir ahnungslosen Anfänger doch viel zu weit oben eingesetzt!! Und da fiel mir auch ein, dass die Schwierigkeit des Flusses oberhalb der Weissachmündung mit IV – V angegeben war.
Schon schwoll mir wieder der Kamm! IV – V für Anfänger? Da zählten die beiden Kenterungen doch überhaupt nicht. Heute weiß ich allerdings, dass bei dem damaligen Wasserstand die Schwierigkeit höchstens III – IV war. Doch für einen Faltbootzweier und noch dazu für Anfänger war diese Strecke unbedingt abzuraten.
In Bregenz war ich heilfroh, als ich beim Auto endlich meine nassen Sachen ausziehen konnte. Den Käfer VW hatten wir am Vortag auf dem Bahnhofsgelände stehen lassen. Da wir keine trockenen Kleider mehr hatten, wickelte ich mich einfach in eine Wolldecke, die bei uns immer auf den Hintersitzen lag. So fuhr ich, nur mit einer Decke bekleidet, Richtung Lingenau. Am Bahnhof angekommen, hielt ich vergebens Ausschau nach meinem Bruder. Langsam kam in mir doch die Wut hoch, wo steckt der Kerl?
Als ich die Bahnschienen entlang in Richtung Kenterstelle ging, saß der mitten auf den Schienen und schaute in die Landschaft.
´Na, der soll was erleben´, dachte ich mir und rannte auf ihn zu und in meinem Zorn klebte ich ihm auch gleich eine. Anstatt auf zu brausen, entgegnete Fritz-Joachim ruhig:
„Warum schlägst du mich, über eine Stunde stand ich in diesem eiskalten Wasser, bis ich das Boot abgebaut hatte. Im Wasser!! Jetzt bin ich total fertig, da kommst du und schlägst mich auch noch.“ Das alles traf mich härter, als wenn er aufgebraust wäre.
„Heb mal das Bootsgepäck hoch, das ist elend schwer, da bist du total fertig, bis du es hier auf den Schienen hast“, fügte er noch hinzu.
Mein Bruder hatte Recht, so ein nasses Boot hat wirklich sein Gewicht. Ich entschuldigte mich bei ihm und gemeinsam schleppten wir Bootsrucksack und Stabtasche zum Auto.
Nun konnte ich auch daran denken, etwas Vernünftiges anzuziehen, denn immer noch hatte ich außer der, mit einer Schnur zusammen gebundenen Wolldecke nichts an.
Schnell war alles verstaut und es konnte heimwärts gehen. Insgeheim gelobte ich mir, künftig vom Wildwasser die Finger zu lassen und stattdessen wieder klettern zu gehen.
Das Jahr 1957 war ein Schreckensjahr für den Alpinismus. Hermann Buhl war an der Chogolisa im Himalaja zu Tode gestürzt, der junge Pfäffle in der Marmolatawand erfroren und dann die Eigerkatastrophe, wo Günther Notdurft und Franz Mayer ums Leben kamen. Ich wollte unbedingt nach Grindelwald fahren, doch mein Vater war dagegen und nahm mir sogar den Rollerschlüssel ab. Es war schrecklich, über den Radio alles mit zu verfolgen und nicht helfen zu können.
Ich entschloss mich, das Klettern an den Nagel zu hängen doch allzu lange hielt ich nicht durch.
In Mainz hatte ich beim Kletterclub Anschluss gefunden. Wir stiegen die schweren Touren im Rhein- und Nahetal, doch diese Kleinfelsen waren kein Donautal und schon lange keine Alpen.
Ostern 1958 fuhr ich fünf Tage in Urlaub nach Tuttlingen. Wie´s nun der Zufall so wollte, hatte mein Bruder keinen Vordermann in seinem Boot für die geplante Osterfahrt.
„Gehst du mit auf die Donau?“ war so ziemlich das erste, was er mich fragte, als er mich sah.
„Du kannst ja auf deiner Bregenzer Ache Tradition aufbauen.“
„Die Donau würde ich schon mal fahren, da kann ja nicht viel passieren.“ Am Abend bauten wir noch hinter unserem Haus den Zweier auf, der nach der Havarie auf der Ache wieder ganz ordentlich aussah.
Als am folgenden Morgen der Wecker rasselte, wusste ich mal wieder nicht, wo ich war, doch als ich Fritz-Joachim aus dem Bett springen sah, fiel mir alles wieder ein: Gestern war ich mit dem Zug von Mainz hierher gekommen, und heute wollten wir die Donau fahren. Hunger hatte ich keinen und drängte daher zu schnellem Aufbruch. Das kannten alle meine Kameraden, mit denen ich schon irgendwann auf Tour war: Kaum ist der Kerl aus dem Zelt, da möchte er schon ins Boot, in irgendeine Wand oder auf die Skier. Als mein Bruder mit seinem Kaffee fertig war, zogen wir los.

Das Boot wurde auf den Wagen gespannt und schon schoben wir das Gefährt Richtung Donau. An der Kiesbank, rechts der Straßenbrücke setzten wir ein. Glatt ging es bis zum „Schmelzewehr“. Dieses wurde links umtragen und weiter ging die Fahrt. Die Dörfer des oberen Donautals zogen an uns vorbei. In Fridingen tat es plötzlich im Bug einen Schlag.
„Verdammt, pass doch besser auf“, schrie der Kapitän auf dem Hintersitz. „Ist schon gut, ich kann ja nichts dafür“, war meine ganze Antwort.
Ich bin sicher, mein Bruder hatte überhaupt nichts gehört, der schaute nur zur Straßenbrücke hoch, wo einige hübsche Mädchen standen. Doch kurz darauf stieß er einen wilden Fluch aus. „Wasser im Schiff, wir haben ein Loch!“
Au Backe´ dachte ich, ´und wir haben kein Flickzeug dabei´.
„Scheißegal, wenn der Pott voll ist, leeren wir eben aus.“ Der Bruder sprach aus, was auch ich dachte. Wir paddelten weiter, leerten aus, paddelten wieder und leerten erneut aus.
Bis nach Hausen im Tal hatten wir etwa dreißig mal das Wasser aus dem Boot gegossen. Schnell war das Schiff abgebaut. Wir marschierten Richtung Bahnhof und waren am Abend wieder in Tuttlingen.